Freitag, 9. März 2018

Lesekreis


Von Katzenzungen bin zur Kollektivschuld
Es wird gelesen, diskutiert und - gegessen

Inzwischen hat Gerhard Durlachers Buch „Ertrinken“ Einzug in viele Baden-Badener Haushalte genommen, es wird gerne verschenkt, ist schnell gelesen. Schulklassen beschäftigen sich mit dem Stoff und transformieren ihn in kleine Theaterstücke, Video-Schnipsel oder auch in Denkanstöße, wenn sie zum Beispiel auf dem Nach-Hause-Weg über die vielen Stolpersteine im Stadtgebiet laufen, ältere Mitbürger nehmen das Buch zum Anlass, ihre Erinnerungen an die eigene Flucht aufzuschreiben – und auch private Lesekreise haben das Buch in ihr Programm aufgenommen. Einer dieser kleinen, feinen Zirkel hat sich vor kurzem geöffnet und mich eingeladen, als Gast dabeizusein. Ich möchte hier keine Namen nennen, soll dieser Abend doch symbolhaft für die vielen Diskussionsrunden stehen, die sich zur Zeit mit dem Thema der Judenverfolgung im Nazideutschland auseinandersetzen.

Montagabend, 19 Uhr. Die ersten Gäste trudeln ein, es wird begrüßt, gelacht, ein kleiner Umtrunk kann nicht schaden, und der Tisch ist liebevoll für eine gesellige Essensrunde eingedeckt. Man kennt sich; es wird nicht nur gelesen in dieser Runde tatkräftiger Frauen, auch wandern, Kurzreisen und gehobene Kulinarik stehen hoch im Kurs. Von wegen gemütliches Kaffeekränzchen oder abgehobene Blaustrumpfrunde!



In jeder Handtasche steckt heute das Buch, das seit Anfang des Jahres zumindest in Baden-Baden in aller Munde ist: „Ertrinken“ von Gerhard L. Durlacher.

Ich hätte mich ohne diese Runde nicht dran getraut“, verrät mir eine der Teilnehmerinnen. Und sie habe bis zum Schluss gefürchtet, dass es böse enden wird. Eine Erfahrung, mit der sie nicht alleine steht.
Andere waren aus anderen Gründen skeptisch, manche konnten und mochten das Thema eigentlich nicht mehr hören, zu oft hat man sich in der Vergangenheit mit den schrecklichen Taten der Väter beschäftigen müssen.
 
Um so mehr schwingt überall so etwas wie Erleichterung mit, dass Durlacher es uns gewissenmaßen leicht macht, seinen Erinnerungen an den Beginn der schweren Zeit zu folgen. Man erlebt das Herannahen der immer lauter werdenden Naziparolen, das Dröhnen des Gleichschritts, die Ängste und die Verwirrung des kleinen Jungen, der Durlacher damals war. Wir wandern auf seinen Spuren in Baden-Baden, fragen uns, wo die einzelnen Schauplätze waren, tauchen ein in seinen Alltag, der immer bedrohlicher wird.
Und schon sind wir mitten drin in der Diskussion! Hat Deutschland eine Kollektivschuld? Wie sind wir Jahrzehnt um Jahrzehnt nach dem Krieg mit dem Thema umgegangen? Manche erinnern sich noch zu gut an hitzige Gespräche und Gefühlsausbrüche am Familientisch, manche erinnern sich ans Gegenteil, an das bedrückte (Ver-)Schweigen beim Abendbrot.
Immer wieder schweifen die Gespräche vom Büchlein selbst ab, bleiben aber doch eng am Thema. Wie es eben sein soll, wenn Baden-Baden dieses Buch diskutiert.
Und was für eine schöne Geste der Gastgeberin und Diskussionsleiterin zum Schluss des Abends, als sie das Buch noch einmal aufschlägt und die Passage über die Geburtstagsfeier vorträgt: „Für mich hat sie eine flache Schachtel mit wolligen Kätzchen auf dem Deckel mitgebracht. Im weiten Satinbett liegt eine lange Reihe Katzenzungen aus Schokolade, zu schön um sie zu essen“. 
 
Und siehe da, es gibt sie auch heute noch! 


 

Wenn Sie nun Lust bekommen haben, ebenfalls über dieses Buch zu diskutieren und/oder mehr über die stadtweite „Mitmach-Aktion“ zu erfahren – wir kommen gerne vorbei und erklären das Programm und geben auch gerne Hintergrundberichte über das Entstehen der Idee bis hin zu dem, was ist und noch werden soll. Oder schicken uns einen kleinen Bericht über Ihre ganz persönliche Reaktion auf das Buch oder ein Erlebnis mit dem Buch. Wir freuen uns über jede Kontaktaufnahme. 

Wenn Sie Ihre eigenen Fluchterlebnisse oder die Ihrer Eltern/Großeltern aufschreiben wollen, dann nehmen Sie bitte ebenfalls Kontakt mit uns auf: Hierfür ist vor allem Petra Mallwitz zuständig, die  zusammen mit weiteren Mitgliedern des Arbeitskreises Stolpersteine verschiedene Schreibworkshops anbietet. Näheres hier => KLICK
Gerne erklärt sie Ihnen, um was es geht und hilft Ihnen, den richtigen Ansatzpunkt zu finden. Rufen Sie sie an! Die Telefonnummer von Petra Mallwitz ist: 0171 7045341.